Mein Name ist Lupus. Jawohl, ich bin ein Wolf.
Mit dem bösen Wolf aus dem Märchen habe ich nichts zu tun. Wer das erzählt,
der lügt. Kein Mensch braucht vor mir Angst zu haben. Im Gegenteil - ich bin
es, der sich vor den Menschen fürchtet. Vor den meisten jedenfalls. Wenn es
sich einrichten lässt, gehe ich ihnen lieber aus dem Weg. Nicht jeder Zweibeiner
ist so gutmütig wie der, dem ich neulich begegnet bin. Der hielt mich wohl für
einen Hund und pfiff nach mir.

Alles was recht ist! Nur
gut, dass er nicht genauer hingesehen hat, sonst hätte er seinen Irrtum vielleicht
bemerkt und Krach geschlagen. Das ist das Letzte, was ich hier gebrauchen kann.
Für die, die es für sich behalten können: Wir Wölfe wirken hochbeiniger als
Schäferhunde, die uns entfernt ähnlich sehen. Wir haben aber kleinere, eher
runde Ohren, und unseren Blick aus gelben Augen würde kein Mensch als »treu«
bezeichnen. Unseren buschigen Schwanz tragen wir würdevoll wie eine Schleppe.
Ringelschwänze gibt's bei uns nicht. Wer Tierspuren lesen kann, wird uns an
unserem Pfotenabdruck erkennen, den wir im Schnee oder im Sand hinterlassen.
Er ist länger und schmaler als der eines Hundes.
Überhaupt Hunde! Ein Kapitel für sich. Wir mögen
sie nicht besonders, diese vorlauten Kläffer.
Sie riechen unheimlich. Unheimlich stark nach
Mensch. Wenn es darauf ankommt, halten sie lieber
zu ihm als zu uns. Sie sind weder frei noch
wild, obwohl sich einige von ihnen so aufspielen.
Letztlich - und das will mir nicht in den Kopf,
stammt jeder lächerlicher Kläffer, ob groß oder
klein, ob schlappohrig oder krummbeinig, ob
gestreift oder gefleckt, vom Wolf ab. Schöne
Verwandtschaft das!
Aber eigentlich wollte ich ja meine eigene Geschichte
erzählen. Also:
Ich komme aus dem Land jenseits des großen Flusses.
Meine Heimat sind die dichten, dunklen Wälder,
in die sich nur selten ein Mensch verirrt. Dort
im Wolfsland, wo die Bäume fast in den Himmel
wachsen, bin ich in einer Höhle zur Welt gekommen.
Mein ganzes Leben lang werde ich mich an den
Duft meiner Mutter erinnern. Warm und weich
in ihren Pelz gebettet, verbrachte ich die ersten
Wochen wie fast alle Tier- und Menschenkinder.
Essend und schlafend und schlafend und essend.
Satt und zufrieden. Später stritten wir Geschwister
- wir waren zu viert - immer öfter um die beste
Milchquellen. Nachdem sie versiegt waren, kümmerte
sich unser Vater darum, dass wir satt wurden.
Unermüdlich war er auf den Beinen, um Nahrung
heranzuschaffen. Selbst für einen Wolf ist es
kein Kinderspiel, vier hungrigen Mäuler zu stopfen!
Und es kann schon lästig werden, die ewig bettelnde
Brut am Hals zu haben. Wolfswelpen haben nämlich
einen Mordsappetit und wachsen wie der Teufel.
Schon bald wurde uns Kleinen die Höhle zu eng.
Wir entdeckten, dass die Welt bunt und schön
und aufregend ist. Von Gefahren, die auch auf
dumme, kleine Wölfe lauern, ahnten wir natürlich
nichts. Unsere Eltern hatten ihre liebe Not
mit uns. Wahrscheinlich ist es leichter einen
Sack Flöhe zu hüten als vier unternehmungslustige
Welpen. Wir haben sie jedenfalls ganz schön
in Atem gehalten! Nach wenigen Monaten waren
wir fast so groß wie sie. Schlaksige Halbstarke,
noch nicht erwachsen, aber auch keine Welpen
mehr. Das war die Zeit, in der wir alles lernten,
was ein richtiger Wolf wissen und können muss
und in unseren Eltern hatten wir die besten
Lehrmeister der Welt. Sie haben uns geduldig
gezeigt, wie man Mäuse fängt. Dass manche Beeren
köstlich schmecken. Dass es Gräser und Kräuter
gibt, die bei Magendrücken helfen. Und - ich
will es nicht verschweigen, sie sind mit uns
auch auf die Jagd gegangen. So oft, bis wir
endlich begriffen hatten, worauf es ankommt.
Anschleichen, umzingeln, hetzen und zupacken.
Nicht jeder Versuch Beute zu machen war erfolgreich
und nicht selten sind wir mit leerem Magen nach
Hause gekommen.

Jeder Mensch weiß, dass wir Wölfe uns nicht
allein von Gräsern, Wurzeln und Früchten ernähren.
Wir würden krank und schwach werden und langsam
zugrunde gehen. Ab und zu brauchen wir ein ordentliches
Stück Fleisch zwischen den Zähnen. Dass man
uns deswegen als »Räuber« beschimpft, ist schon
ein starkes Stück. Aber so sind sie nun mal,
die Zweibeiner. Sie halten sich für etwas ganz
besonderes und glauben, alles auf dieser Welt
sei nur für sie da. Sie wollen nicht teilen.
Das ist es!
Bevor ich mich aufrege, will ich lieber weitererzählen.
Unsere Kindheit, was war das für eine wilde,
sorglose Zeit! Manchmal kamen Verwandte aus
einem entfernten Tal vorbei. Genauer gesagt,
die Sippschaft meiner Mutter mit Kindern und
Kindeskindern. Auf den ersten Blick eine ziemlich
verwegenes Pack. Doch an ihren Manieren war
nichts auszusetzen. Sie rückten uns nicht einfach
auf den Pelz, sondern machten an der Grenze
unseres Reviers halt und meldeten sich an. Wenn
meine Eltern das hörten, wurden sie ganz aufgeregt
vor Freude. Sie ließen alles stehen und liegen
und antworteten.
Die Menschen haben dafür ein ziemlich hässlich
klingendes Wort. Die Wölfe heulen, sagen sie
und ängstigen sich völlig unnötig. Dabei gibt
es nichts schöneres als den Gesang eines Wolfsrudels,
ganz besonders in einer klaren Vollmondnacht.
Und das Singen steckt an. Wer es hört, muss
einfach mitsingen, ob er will oder nicht. Wenn
Wölfe heulen heisst das ja nichts anderes als:
Hallo, wir sind da, meldet euch, wenn ihr auch
in der Gegend seid. Oder: Heute Nacht gehen
wir auf die Jagd, wer sich anschließen will,
ist herzlich eingeladen. Oder manchmal auch:
Ich bin alleine und sehne mich nach einem Gefährten.
Alles war, wie es sein sollte und es hätte so
weitergehen können, wenn nicht eines Tages etwas
Schreckliches passiert wäre. Im Morgengrauen
- wir Jungen ruhten todmüde von der nächtlichen
Jagd in unserer Höhle - war mir, als hörte ich
Geräusche. Seltsam fremd. Auch ein merkwürdig
strenger Geruch hing in der Luft, den ich nicht
deuten konnte. Jetzt wäre es an der Zeit gewesen,
einen Pirschgang zu unternehmen. Doch ich hatte
einfach keine Lust, unsere warme Höhle zu verlassen,
machte mir nicht groß Gedanken und schlief wieder
ein. Ich hielt es noch nicht einmal für nötig
meine Geschwister zu alarmieren. Ein unverzeihlicher
Fehler, den meinen Eltern - wären sie nur da
gewesen - niemals gemacht hätten. Als ich aufschreckte,
war es zur Flucht schon zu spät. Ich hörte noch
ein Krachen und Poltern, dann einen ohrenbetäubenden
Knall. Dann stürzte die Höhle ein. Vier junge
Wölfe wurden unter Erdbrocken und Steinen begraben.
Aus. Vorbei. Totenstille.

Als ich wieder zu mir kam, war mir,
als müsste ich ersticken. In wilder Hast fing
ich an zu scharren, blindlings Erde und Steine
wegzuschaufeln. Ich wollte raus, nur raus! Nicht
lebendig begraben sein. Nicht jetzt schon sterben
müssen. Nie wieder den blauen Himmel sehen...
Plötzlich sah ich ihn. Ein winziges Stück Blau
wurde mein Wegweiser in die Freiheit. Ich arbeitet
wie ein Besessener und nahm die Zähne zu Hilfe,
um den Erdspalt zu erweitern. Endlich konnte
ich mich hindurchzwängen. Geblendet vom hellen
Tageslicht, rannte ich blindlings los. Ich rannte
um mein Leben. Fort von den kreischenden Maschinen
und brüllenden Menschen. Ich war dermaßen damit
beschäftigt, meine eigene Haut zu retten, dass
ich an meine Geschwister gar nicht dachte. Heute,
wo ich älter und weiser bin, schäme ich mich
dafür. Ich habe keine Ahnung, was aus ihnen
geworden ist.
An jenem Unglückstag lief und lief ich ohne
Pause bis es Abend wurde. Meine Pfoten wurden
wund und ich keuchte vor Erschöpfung. Erst als
ich plötzlich vor einem breiten, träge fließenden
Wasser stand, hielt ich an. So viel Wasser hatte
ich noch nie gesehen. Vorsichtig trank ich ein
paar Schlucke, dann kühlte ich meine heißen,
schmerzenden Pfoten und dann - oh, es war wunderbar,
legte ich mich in eine flache Mulde und ließ
mir von den plätschernden Wellen den Schmutz
aus dem Pelz spülen. Langsam fühlte ich mich
besser. Der Nebel in meinem Gehirn löste sich
auf. Obwohl ich damals noch ein junger Spund
war, unerfahren und gutgläubig, ahnte ich doch,
was mir und den meinen zugestoßen war.
Meine Mutter hat uns oft erzählt, dass sich
Menschen fürchten, wenn sie durch einen Wald
gehen müssen. Je größer, dichter und dunkler
er ist, um so mehr fürchten sie sich. (An dieser
Stelle lachten wir Kleinen uns halbtot). Deswegen
setzen sie sich am liebsten in diese fahrenden
Käfige, die sie Autos nennen. Und weil Autos
nur auf glatten, breiten Pfaden rollen, die
Straßen heißen, müssen Menschen immerzu Straßen
bauen. Besonders gern durch Wälder. Dafür fällen
sie dann alle Bäume, die im Wege steht. Millionen
und Abermillionen Bäume sind so ums Leben gekommen.
Einer davon muss genau auf unsere Höhle gestürzt
sein!
Am Abend jenes Unglückstages war ich das erste
Mal in meinem Leben alleine und tieftraurig.
Ich hatte alles verloren, was mir vertraut war:
meine Eltern und Geschwister, meine Höhle, meine
Lichtung, meinen Wald, meine Welt - meine Heimat.
Und obwohl ich hungrig war wie nur ein Wolf
sein kann, kroch ich ins nächsten Gebüsch, rollte
mich zusammen und schlief ein. Mitten in der
Nacht wurde ich plötzlich wach. Hellwach! Meine
innere Stimme sagte mir: Du musst weiter, über
das große Wasser und noch viel weiter, bis du
in eine Gegend kommst, in der deine Sippe einst
zu Hause war. Sie ist schön und fast menschenleer
und niemand wird dort den Wald vernichten, dich
verjagen oder dir nach dem Leben trachten. Die
Zeiten haben sich geändert. Auch für dich. Das
wird mir kein Zweibeiner glauben, aber es war
so. Genau so! Von dem Moment an wurde ich von
einer großen Unruhe gepackte. Ich wollte keine
Zeit verlieren, denn ich sah meinen Weg so deutlich
vor mir, als wäre ich ihn schon einmal gegangen.
Dass ich am Ausgangspunkt einer langen, gefahrvollen
Wanderung stand, war mir damals gar nicht bewusst.
Wie im Traum hatte ich nämlich jenen uralten,
fast vergessenen Wolfswechsel gefunden, auf
dem meine Ahnen jahrhundertelang nach Westen
gezogen sind.
Zuerst musste ich auf die andere Seite des große
Wasser gelangen. Ein bisschen Angst hatte ich
schon, aber an einer seichten Stelle ging es
einfacher als gedacht. Nachdem das geschafft
war, lief ich weiter und weiter, immer der Nase
nach, immer westwärts. Ich überquerte Straßen,
wich Autos aus und schlich um Menschenhäuser.
Meinen Hunger spürte ich kaum noch. Erst als
mir ein merkwürdiger großer Vogel über den Weg
lief, der einfach nicht wegfliegen wollte, packte
ich zu. Eine so leichte Beute war mir noch nie
begegnet. Heute weiß ich natürlich, dass diese
dummen Vögel den Menschen gehören, Sie lassen
sie in der Gegend herumlaufen und machen ein
Riesengeschrei, wenn einer fehlt. Der Fuchs,
der Fuchs, jammern sie dann und rufen nach dem
Jäger. Das ist auch wieder ein Kapitel für sich.
Davon später.

Ich hatte also mein erstes Huhn erbeutet und
weil das so mühelos ging, ist es mir während
meiner Wanderung zur Gewohnheit geworden. Hühner
geben zwar nicht viel her und ihre Federn sind
ungeheuer lästig, sie sind jedoch besser als
nichts. Wenn man hungrig und in Eile ist, darf
man nicht heikel sein, das weiß doch jedes Kind.
Einmal - es war in der Nähe einer großen Stadt
- hörte ich Krähen schreien. Ich kannte das.
Krähen machen ein unglaubliches Theater, wenn
sie etwas Nahrhaftes entdeckt haben. Und manchmal
lohnt es sich sich, das schwarze Gesindel von
seiner Beute zu vertreiben. Neugierig geworden,
folgte ich ihnen. Was sich jedoch dann vor meinen
Augen abspielte, war unerhört. Hunderte, ja
tausende dieser schwarzen, kreischenden Aasvögel
ließen sich auf einem riesigen, stinkenden Berg
nieder und wühlten im Dreck. Jawohl, Dreck!
Dreck, der nach Menschen stank. Dreck, der zum
Himmel stank. Zwischen den Krähen mit leuchtenden
Augen meine Vettern, die Füchse. Auch sie verschlangen
gierig, was noch genießbar war. Auch ein paar
Hunde waren da. Dürre Gestalten, die sich mit
Krähen und Füchsen um die besten Brocken zankten.
Widerlich! Entwürdigend! Nein, dann halte ich
mich doch lieber an Mäuse und Regenwürmer. Ich
war überzeugt, kein Wolf, und wäre er noch so
hungrig, würde sich einen solchen Aasfraß einverleiben.
Ich sollte mich täuschen. Nicht das erste Mal
in meinem Leben.
Unbemerkt wie ich gekommen war, machte ich mich
wieder davon. Ich brauchte die ganze Nacht,
um die große Stadt zu umrunden. Mein vorgezeichneter
Weg, den ich wie eine Landkarte im Kopf hatte,
führte zwar mitten durch, aber das Wagnis war
mir zu groß. Also schlich ich durch Gärten,
über Felder und Wiesen, zwängte mich durch Zäune,
watete durch Gräben, immer begleitet vom wütenden
Gebell der Hunde. Gefangene an Ketten. Eingesperrte
in Käfigen. Arme Irre, die für einen vollen
Magen ihre Freiheit verkauft haben. Was beklagen
sie sich, sie haben es nicht anders verdient.
So dachte ich damals. Ich wusste noch nicht,
dass auch sie unter den Zweibeinern zu leiden
haben und dass manche von ihnen ärmer als Schweine
sind.
Der Morgen graute, die Stadt lag endlich hinter
mir, da blieb ich, kaum hatte ich mich in Trab
gesetzt, wie angewurzelt stehen. Hatte ich mit
offenen Augen geträumt? War auch ich verrückt
geworden? Nein, da waren sie wieder, die Stimmen
meiner Artgenossen. Wölfe! In dieser gottverdammten
Gegend sangen Wölfe! Kein Zweifel, sie sangen
das alte Lied, das ich so oft gehört hatte.
Und sie sangen es hinreißend schön. Strophe
für Strophe. Alle Vorsicht vergessend, holte
ich tief Luft und antwortete. Ich schämte mich
ein bisschen, weil meine Stimme so rauh und
ungeübt klang. Ich hatte ja seit ich unterwegs
war keinen Laut von mir gegeben. Trotzdem wurde
ich verstanden. Eine schöne helle Stimme schickte
mir eine Einladung: Komm her, Fremdling, beeil
dich, wir warten. Mein Herz klopfte bis zum
Hals. Endlich! Wie lange hatte ich die Gesellschaft
von Artgenossen entbehren müssen. Freudig erregt
setzte ich mich wieder in Trab.
Ich will es kurz machen: Es wurde eine Riesenenttäuschung.
Ich fand meine Artgenossen ohne Schwierigkeiten.
Es war keine Kunst, denn sie waren eingesperrt.
Gefangen, hinter Gittern - wie die Hunde. Um
sie herum lärmten eine Menge anderer Tiere.
Tiere, die ich noch nie gesehen hatte. Auch
sie waren mit Gittern, Zäunen und Mauern umgeben.
Die Wölfe waren zu viert. Als sich mich entdeckten,
rannten sie in ihrem Gefängnis hin und her.
Immer zehn Schritte hin und wieder zurück, hin
und zurück. Wie von Sinnen. Dabei flackerte
der Irrsinn in ihren Augen. Mein Gott, es war
unerträglich! In rasender Wut schlug ich meine
Zähne in das Gitter, riss und rüttelte, bis
mir die Kiefer schmerzten. Alles umsonst. Es
hielt stand. Während ich tobte und wütete, knurrte
und winselte, waren meine Artgenossen nicht
zur Ruhe gekommen. Sie beruhigten sich erst,
als ich zähneknirschend aufgab, meinen Kopf
gegen die Gitterstäbe presste und erschöpft
die Augen schloss. Dann aber geschah ein kleines
Wunder. Eine Wölfin löste sich aus der Gruppe
und wagte es, mich zu begrüßen. Sie steckte
ihre Nase durch das Gitter und berührte mich
sanft. Sie witterte in mein Fell und stupste
in meine Mundwinkel. Sie leckte mir über die
Schnauze und gab ganz leise, zarte Töne von
sich. Ich konnte gar nicht anders, ich musste
die Augen öffnen. Vor mir stand die hübscheste
Wölfin, die ich je gesehen hatte. Klein und
zierlich, mit einem Pelz, der fast so schwarz
war wie die Nacht. Und ihre Augen! Ganz hell,
heller als Bernstein. Wenn sie nur nicht dieses
irre Flackern gehabt hätten...
Nachdem wir uns - soweit das unter diesen unwürdigen
Umständen möglich war - nach Wolfssitte begrüsst
hatten, begann die junge Wölfin zu erzählen.
Natürlich nicht in der Menschensprache. Wir
Wölfe haben eine eigene, ziemlich komplizierte
Sprache, mit der wir alles ausdrücken können,
was uns bewegt. Ich erfuhr Unglaubliches. Die
kleine, sanfte Wölfin, die nie ihr Gefängnis
verlassen hatte, die hinter Gittern zur Welt
gekommen war, erteilte mir eine Lektion, an
der ich mein Leben lang kauen werde. Eine Lektion
über die Gemeinheit und Grausamkeit der Menschen.
Ich hatte ja keine Ahnung, dass meine Artgenossen
auf der ganzen Welt verfolgt werden. Dass sie
erschossen und vergiftet werden. Dass man sie
in Fallen zu Tode quält, nur um ihnen den Pelz
über die Ohren zu ziehen. Dass man sie aus ihrer
Heimat vertreibt. Dass man sie in Gefängnisse
steckt, die »Tiergärten« genannt werden, damit
sie von Menschenkindern bestaunt und begafft
werden können. Erst dachte ich, sie lügt, die
kleine Wölfin. Woher will sie das wissen, wenn
sie nie ein richtiges wildes Leben geführt hatte.
Ich war überzeugt, sie übertreibt, um sich interessant
zu machen oder mir einen Schrecken einzujagen.
Doch so war es nicht. Leider! Ihre Erklärung
war einfach und glaubwürdig:

Sie hatte diese schrecklichen Geschichten
von ihrer Mutter gehört. Die nämlich war frei
geboren und lebte bis zu ihrer Gefangennahme
in einem fernen, weiten Land. Sie war ein Wildfang,
eine unbezähmbare Menschenhasserin. Sie ließ
keinen Zweibeiner an sich heran und zeigte jedem,
der sich ihr näherte, die Zähne. Kein Zoo -
ja, es gibt viele Namen für diese Gefängnisse
- wollte sie haben. Noch nicht einmal geschenkt.
Schließlich ist sie hier gelandet als Gefährtin
eines alten, halbblinden Wolfsrüden. Sie vertrug
sich gut mit ihm. Sie stammte aus seiner Sippe,
sprach seine Sprache und teilte sein Schicksal.
So etwas verbindet und tröstet. Was ich nicht
für möglich gehalten hätte: Sie hat in diesem
Loch sogar Junge zur Welt gebracht! Danach wurde
sie ruhiger und umgänglicher. Eine ganze Zeit
lang war sie damit beschäftigt ihre Kinder großzuziehen.
Doch plötzlich - es war mitten in einem schneereichen
Winter - muss ihr unbändiger Freiheitsdrang
wieder erwacht sein. Eines Nachts gelang es
ihr mit einem Riesensatz das Gitter ihres Gefängnisses
zu überspringen und zu entkommen. Natürlich
haben die Zweibeiner ein Riesentheater gemacht.
Eine ganze Armee war auf den Beinen um sie zu
jagen. Man wollte sie wieder haben - tot oder
lebendig. Umsonst, niemand hat sie je wiedergesehen.
Kurz nach dem Verschwinden seiner Gefährtin
starb der alte Wolfsrüde. Nein, es war nicht
Altersschwäche. Er starb an der Einsamkeit des
Herzens. Eine Todesursache, die bei eingesperrten
Tieren gar nicht so selten ist. Die Menschen
haben ja keine Ahnung.
Auf meine Frage, warum sie nicht auch geflohen
sei, schüttelte die kleine Wölfin nur ihren
schönen Kopf. Nach der Flucht ihrer Mutter wurden
die Gefängnisgitter verstärkt und erhöht. Kein
Wolf - und wäre er noch so geschickt - kann
sie seitdem überwinden. Was aber viel schwerer
wiegt, Wölfe, die in Gefangenschaft geboren
und aufgewachsen sind, taugen nicht mehr für
die Freiheit. Das jedenfalls behauptete die
kleine Schwarze, bevor sie wieder zu ihren Geschwistern
zurücktrabte. Schweren Herzens machte ich mich
wieder auf den Weg. Und obwohl ich spürte, dass
vier gelbe Augenpaare mir Löcher in den Pelz
brannten, hielt ich stand. Ich ging ohne Abschied
und ohne mich noch einmal umzudrehen. Der Blick
zurück - er hätte mir das Herz gebrochen.
Die Begegnung mit meinen gefangenen Artgenossen
hatte mich verändert. Meine Unbekümmertheit
war dahin. Misstrauisch und ängstlich setzte
ich meine Wanderung fort. Nur im Schutz der
Dunkelheit wagte ich mich in die Nähe menschlicher
Behausungen. Die Tage verbrachte ich dösend,
doch immer fluchtbereit, in notdürftigen Verstecken.
Einmal sogar in einem verfallenen Menschenhaus.
Nicht selten hörte ich Menschenstimmen und sah
von Hunden bewachte Schafherden vorüberziehen.
So quälend langsam, dass ich ihnen am liebsten
Beine gemacht hätte. Zum Glück hatte ich von
den Hütehunden nichts zu befürchten. Sie entfernen
sich nicht von den Schafen und verrichten gewissenhaft
die Arbeit, die ihnen zugewiesen wurde. Manch
einer, der meine Spur kreuzte und meine Witterung
in die Nase bekam, hob den Kopf, prüfte den
Wind und entblößte knurrend die Zähne. Er wäre
mir liebend gern auf den Pelz gerückt, aber
sein Pflichtgefühl hielt ihn davon ab. Die Schäfer
haben nie gemerkt, dass ich ganz in ihrer Nähe
war. Wie sollten sie auch? Ihre Augen sind schlecht,
ihre Nase stumpf und ihre Ohren taub.
Wahrscheinlich wissen sie gar nicht mehr was
das ist: ein freier Wolf. Wir kommen ihnen erst
wieder in den Sinn, wenn sie ein Schaf vermissen.
Doch an Schafen, das schwöre ich, habe ich mich
nie vergriffen! Obwohl es keine Kunst gewesen
wäre. Besonders nachts, wenn sie eng gedrängt
auf der Weide stehen, die angebundenen Hütehunde
sich die Seele aus dem Leib bellen, während
die Zweibeiner in ihren Häusern ruhig schlafen.
Es soll Kläffer-Banden geben, die im Schutz
der Dunkelheit durch die Lande ziehen und sich
einen Spaß daraus machen, Terror, Mord und Totschlag
zu verbreiten. Abartig! Damit will ich nichts
zu tun haben.
V

om platten Land
hatte ich die Nase gestrichen voll, und ich
war heilfroh, als ich endlich eine bewaldete
Gegend erreichte. Ausgedehnte Wälder mit Gestrüpp
und Gesträuch und kleinen Lichtungen, das ist
es, was mir zusagt. Hier kann ich mich verbergen,
ruhen, schlafen, meine Nahrung suchen und nach
Lust und Laune umherstreifen. Kurz, all das
tun, was ein Wolfsleben lenbenswert macht. Bisher
hatte ich mit Mühe und viel Glück überlebt,
jetzt wollte ich leben. Nicht leben wie ein
Hund. Leben wie ein Wolf!
Meine Laune besserte sich. Ich hätte aus vollem
Halse singen können. Aber so unvorsichtig war
ich natürlich nicht. Es ist nicht gut, wenn
ein einsamer Wolf aller Welt verrät, wo er steckt.
Also verhielt ich mich ruhig und verbarg mich,
bis der volle Mond den Wald zum Leben erweckte.
Und was für ein Leben! Unglaublich, was da plötzlich
alles auf den Beinen war: Mäuse, Igel, Marder,
Füchse, ein Dachs, Rehe, eine ganze Wildschweinfamilie
und sogar Hirsche. Hirsche! Den letzten bin
ich in meiner Heimat begegnet. Welch sonderbarer
Wald, grübelte ich, wo so viele Tierarten offenbar
in Frieden leben und auch noch satt werden.
Erst als das Getrippel und Getrappel nachließ,
wagte ich mich aus meinem Versteck. Vorsichtig
und jedes Geräusch vermeidend, folgte ich den
großen Huftieren. Nein, nein, ich hatte nicht
vor sie zu jagen. So vermessen war ich nicht.
Alleine bestand nicht die geringste Chance,
das wusste ich nur zu genau. Ich bin einfach
von Natur aus neugierig.
Mit tiefer Nase sog ich ihre Witterung ein und
hatte plötzlich einen ganz anderen Geruch in
der Nase: Mensch! Groß, stark, männlich! Welch
eine Enttäuschung. Es scheint kein Fleckchen
Erde mehr zu geben, wo er nicht seine Spuren
hinterlassen hat. Während ich noch rätselte,
was ein Zweibeiner in dieser Wildnis zu suchen
hat, umwehte mich ein anderer, äußerst reizvoller
Duft. Fleisch! Nicht mehr ganz frisch, daher
besonders begehrenswert.
Hunger, Hunger, Hunger! Es meldete sich wieder,
dieses quälende Gefühl, das alles aus dem Kopf
fegt, bis er so leer ist wie der Magen. Meine
Gier war grenzenlos. Ich konnte gar nicht anders,
ich musste dem Geruch folgen. Ein kurzer Trab,
dann gingen mir die Augen über. Da erhob sich
am Rande einer Lichtung ein Fleischberg, so
mächtig, dass ein ganzes Rudel Wölfe davon satt
geworden wäre. Ich nahm gerade noch wahr, dass
schon Füchse und Wildschweine ihre Spuren hinterlassen
hatten, dann bediente ich mich. Ich aß ohne
Manieren, ja, ich fraß! Ich riss, ich schabte,
ich kaute, ich schluckte, ich schlang. Wie gut
das tat! Herrlich!
Plötzlich, mitten im schönsten Schlingen und
Malmen, traf mich der Blitz. Nein, es war eine
gewaltige Explosion. Sie riss mich von den Beinen,
pustete mir das Gehirn aus dem Kopf und hinterließ
nichts als roten, brennenden Schmerz. Sie machte
mich taub und blind und zog mich hinunter in
ein tiefes schwarzes Loch. Ich fiel und fiel,
doch der erwartete Aufprall kam nicht. Stattdessen
spürte ich, wie mir irgendetwas in die Flanke
gestoßen wurde. Einmal, zweimal, dreimal. Der
stechende Schmerz brachte mich wieder zurück
in diese Welt. Mein Gehirn schrie sofort Alarm:
Achtung, Mensch! Groß, stark und übelriechend.
Rühr dich nicht, halt aus! Er meint, du bist
erledigt. Und tätsächlich. Ein grässlich schwitzende
Kerl beugte sich über mich, atmete pfeifend
aus und hängte sich das Ding, mit dem er mich
traktiert hatte, über die Schulter. Dann wandte
er sich um und ging weg.

Das war meine Chance. Ich
nahm alle Kraft zusammen und rappelte mich auf.
Meine linke Hinterhand war nicht mehr zu gebrauchen,
die Schmerzen brachten mich fast um den Verstand,
trotzdem gelang es mir, mich unbemerkt davonzustehlen.
Auf drei Beinen! Dass ich eine Blutspur hinter
mir her zog, war mir gar nicht bewusst. Ich
hatte meine Haut gerettet, nur das zählte. Mit
letzter Kraft hinkte ich weiter und weiter und
geriet immer tiefer in den Wald hinein. Dort,
wo ein umgestürzter Baum ein Loch in den Boden
gerissen hatte, fand ich einen Unterschlupf.
Ganz vorsichtig ließ ich mich ins Farnkraut
sinken. Da bemerkte ich das Blut. Es tropfte
stetig aus einer tiefen Wunde und versickerte
im Waldboden. Ich hatte das Gefühl, als liefe
mein ganzes Leben aus mir heraus. Frei von Schmerz
und leicht wie eine Feder beobachtete ich staunend
wie ich immer weniger wurde.
Nicht auszudenken, wenn mich der stinkende Zweibeiner
in diesem Zustand gefunden hätte! Er hätte mir
noch eine Kugel in den Pelz gejagt, um mich
von einem Leiden zu erlösen, das er mir selbst
zugefügt hat. (Dass aus dem Ding, das er bei
sich trug, der Tod kam, ahnte ich damals schon).
Möglicherweise hätte er mich an Ort und Stelle
verscharrt und niemand hätte je etwas von mir
erfahren. Vielleicht hätter er mich auch ins
nächste Dorf geschleift und allen, die es hören
wollen, das Märchen vom bösen Wolf erzählt.
Dass es nicht so weit kam, verdanke ich einem
Schutzengel. Warum sollen Wölfe keinen Schutzengel
haben? Meiner kam in Gestalt einer Wölfin. Bei
einem Streifzug durch ihr Revier, in dem ich
Schutz gesucht hatte, war sie auf meine Spur
- die Blutspur - gestoßen. Im Morgengrauen fand
sie mich. Ich lag mehr tot als lebendig auf
meinem Farnlager. Wie sie es fertigbrachte,
dass ich nach drei Tagen wieder zu mir kam,
bleibt ihr Geheimnis. Ich glaubte an Fieberträume,
als ich das dunkle Gesicht mit den hellen Augen
erblickte. Und ich brauchte eine ganze Weile
bis ich begriff, wem ich meine Rettung zu verdanken
hatte. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Der
dunkle Pelz, die bersteinfarbenen Augen, die
schlanke Gestalt. Und dennoch war sie es nicht,
die kleine Zoo-Wölfin. Es war ihre freiheitsliebende
Mutter! Die Ausbrecherin. Eine mit allen Wassern
gewaschene Einsiedlerin, deren geheimes Leben
durch mein Unglück einen unverhoffte glückliche
Wendung nehmen sollte.
Ich will nicht vorgreifen. Zunächst war ich
überhaupt nicht erfreut, dass sie mich zwang,
mein Krankenlager zu verlassen. Doch sie hatte
sich in den Kopf gesetzt, mich schnellstens
in ihre eigene Höhle zu bringen. In diesem Punkt
war sie unerbittlich. So knuffte, schob und
traktierte sie mich so lange, bis ich tatsächlich
wieder auf die Beine kam. Auf drei wohlgemerkt.
Die verletzte Hinterhand schonte ich so gut
es ging. Was für ein Mühe! Die Strecke, für
einen gesunden Wolf ein Katzensprung, zog sich
elend in die Länge. Schließlich erreichten ich
völlig erschöpft den Unterschlupf meiner Retterin.
Ich hätte ihn gar nicht bemerkt, so gut versteckt
war er. Hinter dem Gewirr von Ästen und Zweigen,
die den Einschlupf tarnten, hätte kein Mensch
eine so geräumige Höhle vermutet, geschweige
denn die Wohnung einer Wölfin.
Kaum hatte ich es mir ächzend und stöhnend bequem
gemacht, da schoss die Schwarze mit einem wütenden
Aufschrei wieder ins Freie. Gleich darauf erklang
ein erbärmliches Jaulen, so erbärmlich, dass
es nur von einem Ringelschwanz stammen konnte.
Ein Schnüffler! Er war mir auf der Spur! Und
wo sich Schnüffler herumtreiben, sind ihre zweibeinigen
Führer auch nicht weit. Das war also der Grund
für ihre Ungeduld. Sie kannte das Leben. Sie
wusste aus Erfahrung, wovor man sich in acht
nehmen muss, wenn man auf der Flucht ist. Sie
ahnte, dass der Kerl, dem ich entwischt war,
nach mir suchen würde. Kein Zweifel, ohne ihre
Hilfe wäre ich verloren gewesen.
Als die Schwarze wieder am Höhleneingang erschien
und verächtlich ein Büschel heller Hundehaare
ausspuckte, fürchtete ich schon, sie sei einen
Schritt zu weit gegangen. Sie schüttelte sich
vor Abscheu. Nein, sie hatte den Kläffer nicht
kalt gemacht - nur einen Denkzettel verpasst.
Er würde nicht noch einmal wagen, in ihrem Revier
herumzuschnüffeln, dieser Helfeshelfer seines
niederträchtigen Herren. Wie sie so da stand,
bebend vor Zorn, mit gesträubten Nackenhaaren
und feuersprühenden Augen - ein Bild von einer
Wölfin...
Nach diesem Zwischenfall kehrte Ruhe ein. Sie
tat mir gut. Ich konnte mich erholen und wieder
zu Kräften kommen. Meine Verletzung heilte aus.
Dass ich auf der Hinterhand etwas lahme, muss
ich wohl in Kauf nehmen. Eine kleine Behinderung,
nichts weiter. Es hätte schlimmer kommen können.
Viel schlimmer.
Die schwarze Wölfin ... ach was, ich will kein
Geheimnis daraus machen. Jeder, der mich kennt,
kann es sich denken. Die schöne Schwarze ist
natürlich meine Gefährtin geworden. Sie trägt
bereits schwer an unserem Nachwuchs. In ein
paar Tagen ist es soweit Dann werden nach langer
Zeit hier wieder Wölfe geboren. In Freiheit
geboren!
Damit unser kleines Rudel in Frieden leben kann,
eine Bitte an unsere Freunde: Nehmt uns in Schutz
vor unseren Feinden. Ihr Hass auf Wölfe ist
unausrottbar. Achtet besonders auf jene, die
sich ein Vergnügen daraus machen, Tiere zu jagen.
Obwohl sie kein Recht haben, uns Wölfen auch
nur ein Haar zu krümmen, traue ich ihnen nicht
über den Weg. Und sollte euch eines Tages ein
hinkender Wolf begegnen, lasst euch nichts anmerken.
Wir kennen uns nicht! Wir haben uns nie gesehen.
Die Veröffentlichung dieser netten Geschichte geschieht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und
animal
public e.V.